Typologie für Charaktere

Vor einigen Jahren tauchte ich interessiert in die Welt der Persönlichkeitstests und Typisierungen ab. Zu diesem Zeitpunkt benötigte ich das als Input für Kommunikation und Coaching. Gespräche oder Ratschläge sollten eben auf den Typ abgestimmt sein. Unglaublich wie viele von solchen Ansätzen es gibt. Von wissenschaftlicheren wie dem MMPI bis hin zu populäreren wie DISG oder Insights MDI . Die dazugehörigen Persönlichkeitstests haben oft einen zweifelhaften Ruf, sind immer wieder reduziert auf den Unterhaltungsteil einer Illustrierten. Außerdem bleibt natürlich das Unbehagen, Menschen auf diese Weise zu schubladisieren.

Ich programmierte damals sogar ein Internet-Tool, bei dem man mit einem Fragebogen vier verschiedene Tests gleichzeitig ablegen konnte. Im Filmbereich kam dieses Thema in den letzten Jahren vor allem durch die Profiler auf die Leinwand, als Charaktere, die das bei der Jagd auf die Bösen einsetzen.

Wieso sind diese Persönlichkeitstypen für das Drehbuchschreiben interessant? Die Charaktere, die Rollen unserer Filme sollen ja plausible, „echte“ Persönlichkeiten sein. Wir erschaffen Menschen, die tatsächlich so existieren könnten (wenn es sich nicht sogar bei wahren Begebenheiten um echte Personen handelt). Und dafür verwendet, sind Persönlichkeitstests „Baukästen“, um Charaktere mit den richtigen „Bestandteilen“ (wie Eigenschaften, Werten, Verhaltensweisen) zusammenzusetzen. Im nächsten Schritt sind sie Tools, mit denen man überprüfen kann, ob die Rolle rund ist.

Beim Drehbuchpapst Syd Field dreht es sich auch darum, einen Charakter mit Tiefe zu schaffen, der glaubwürdig ist, zusammen mit einer Art Navigationstool, mit dem man bestimmen kann, wie so ein Charakter in einer bestimmten Situation handeln würde. Er empfiehlt seinen Schülern die Charaktere mit Eltern und deren Lebenswegen auszustatten, eine ganze Biographie der Figur zu schreiben, selbst wenn davon kaum etwas im fertigen Film landet. Nur, damit der Drehbuchautor es weiß und bei einzelnen Handlungen der Figur lebensnah skizziert.

Nur geht die zugrundeliegende Theorie bei Field etwas durcheinander. Was bei ihm Context und Content ist, was extern und was intern erscheint mir nicht immer ganz schlüssig, selbst wenn es eine praktische Arbeitsmethodik ist. Deshalb heute einige Anmerkungen zu anderen Persönlichkeitstypologien, mit denen wir für Zukunftsdrehbücher arbeiten können.

Spannend ist für mich schon, welche Charaktere aus der Geschichte des Science Fiction Films so hängengeblieben sind. Mir kam spontan als erstes ein Charakter, der eigentlich kein Mensch ist, nämlich HAL. Und dann Figuren wie Vincent Freeman aus Gattaca, wobei das auch ein Film ist, der sich sehr explizit mit Persönlichkeitsmerkmalen beschäftigt. Welcher Science Fiction Charakter hat bei Ihnen bleibenden Eindruck hinterlassen?

Gut, mit welchen Methoden gestalten wir jetzt die grandiosen Charaktere der zukünftigen Zukunftsfilme? Meine liebsten Tools zur „literarischen Charakterbildung“ sind die „Big 5“, die Reiss Profile und die Existenzebenen nach Clare Graves (vielen als „Delphinstrategien“ bekannt). Die Big 5 geben den Rahmen für die Persönlichkeit mit ihren Bestandteilen, die Reiss Profile zeigen die Motive aufgrund derer eine Person handelt und sich entscheidet, und die Existenzebenen bestimmen die Glaubenssätze, die sich aus der umgebenden Kultur ergeben. Ich will hier keine umfassende Einführung in die Systeme geben, sondern nur eine Kurzbeschreibung und was man beim Schreiben damit anfangen kann.

Die Big 5 haben lustigerweise ihren Ursprung in der Sprache. Man nehme ein dickes Wörterbuch, extrahiere die Wörter die sich mit der Beschreibung menschlicher Eigenschaften beschäftigen, schaue dann, welche Wörter mehr oder minder dasselbe bedeuten und dann, welche Wörter besonders deutlich die Unterschiede der Persönlichkeiten abbilden. Schließlich landet man bei den 5 Achsen, eben den Big 5: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Und daraus kann man sich jetzt wie am Switchboard einen Charakter bauen. Dafür bewegt man sich bei den Achsen zwischen den extremen Ausprägungen:

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Eine bestimmte Kombi dieser Faktoren bildet dann eine einzigartige Persönlichkeit (das folgende Bild ist übrigens aus einer Analyse zu Mozart):

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Diese Persönlichkeit kann dann in eine Filmsituation geworfen werden um zu sehen, was dieser Eigenschaftsmix bewirkt. Spannend auch, das für widerstreitende Charaktere einzusetzen. Gerade zwei Personen aufeinanderprallen zu lassen, die auf einer der Achsen an verschiedenen Enden liegen, garantiert Drama oder Komik. Der Punkt ist aber, dass es so jeweils eine gut zu beschreibende, vollständige Persönlichkeit ist, bei der man als Autor klare Anhaltspunkte hat, wie sie in welcher Situation agieren und reagieren wird.

Die Reiss Profile wurden auf ähnliche Weise gefunden wie die Big 5, mit statistischen Verfahren. Steven Reiss wollte in den 90ern die „Letztmotive“ des Menschen ergründen, also die Motive, die allem unserem Handeln zugrunde liegen. Psychologen erledigen eine solche Aufgabe in der Regel so, dass sie zuerst alle möglichen Ziele aufschreiben, die Menschen so haben können, egal ob Tausende oder Zehntausende. Dann gehen sie daran zu klären, welche dieser Ziele eigentlich auf etwas Ähnliches hinauslaufen oder ausreichend ähnlich sind. So kann man „ich möchte ein Steak essen“ oder „ich möchte ein Eis essen“ durchaus zu „essen“ zusammenfassen, schließlich ist es kaum ein ausschließliches Lebensmotiv, Eis zu essen. Ebenso ist „finanzielle Sicherheit“ oder „ein dickes Bankkonto“ mit hinreichender Genauigkeit vergleichbar. Langsam dampft der Forscher so unhandlich viele Begriffe zu einer griffigen Zusammenfassung, in dem Fall  16 grundlegende Motive, die alle anderen Ziele beinhalten.

Und die Motive und Ziele die einen Charakter treiben sind ja im dramatischen Zusammenhang die Basis. Was treibt ihn im Film etwas zu tun? Und zwar nicht nur so was Belangloses, sondern etwas so Existentielles, dass es die Ereignisse im Film lostritt? Eine Mischung der 16 Motive gibt dem Autor wieder eine gute Basis für einen runden Charakter. Hier das Profil eines sexgeilen Präsidenten, bei dem Sie auch die 16 Motive in der Übersicht sehen können:

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Zuletzt die Existenzebenen, auch biopsychosoziale Ebenen genannt. Die sehr umfassende und tiefgreifende Theorie basiert auf der Idee, dass sich die Menschheit über die Geschichte hinweg zwischen widerstrebenden Polen bewegt, von „in sich gekehrten“ Zeiten, wo nur der Stamm zählt zu expansiven wie Entdeckungszeitalter und Renaissance. Von Jahrzehnten, die spirituell und suchend sind hin zu rationaleren, dynamischen. Und zurück. Das Schräge ist jetzt, dass es in jedem Zeitalter Menschen gibt, die sich auf einer der anderen Ebenen befinden. Auch in der expansiven Renaissance gibt es Menschen, die von Ihrem Wertesystem eher in das Stammeszeitalter gehören. Auch die „Individuum versus Gemeinschaft“-Dynamik der Werte gehört hier hinein.

Das Schöne für das Entwerfen von Charakteren ist jetzt, dass man die soziologisch/ kulturelle Tiefe der Werte dieser Persönlichkeit als Paket bekommt. Und so tief in die Geschichte des Menschen verwoben wie die Heldenreise von Campbell beim Storytelling. Und die Methode ist hervorragend geeignet, dramatische Reibereien zwischen Figur und Umwelt zu skizzieren, eben wie z.B. ein stammhirniger Stammesmensch in einer dynamischen, offenen Umwelt.

Mit diesen drei Persönlichkeitstypologien können Sie plausible aber komplexe Persönlichkeiten gestalten, über ihre Werte und Wünsche ebenso Bescheid wissen wie über die wichtigen Kerneigenschaften der Persönlichkeit. Dieses „Profiling“ verbinden Sie dann wie bei Syd Field beschrieben mit der Geschichte der Person, der Biographie („Was hat sie erlebt?“, „Wie wurde sie so?“), verbinden sie mit der Umwelt („Wo lebt sie?“, „Was tut sie?“, „Wen kennt sie?“). Und dann lassen Sie sie in Ihre Geschichte eintreten!

Auch einige Software, die beim Schreibprozess unterstützen soll, basiert auf solchen Ansätzen. Nehmen Sie z.B. Character Pro, jetzt Character Writer von Typing Chimp Software. Es basiert auf dem Enneagram (einem Typologie-Tool von mystischem Ursprung) und dem DSM-IV (einem klinischen Diagnostiksystem).

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Die Software führt Sie durch die gesamte Entwicklung der Figur, Sie stellen damit Persönlichkeit, Psychologie, Hintergrund, Beziehungen etc. auf. Interessant ist aber, dass die Software an jeder Stelle Vorschläge machen kann, da es die Informationen aus den Persönlichkeitstypologien für jede Kombination gespeichert hat. Je nach dem was Sie schon eingegeben haben, meint die Software dann: „Eine Person mit dem und dem Persönlichkeitsprofil und diesen anderen eingegebenen Eigenschaften würde in einem Dialog auf die folgende Weise reden …“. Oder eben dass ein bestimmter Background besonders gut passt. Sie können auch einen „Relationship Generator“ nutzen, der passende Beziehungen vorschlägt.

Ob man dazu eine Software braucht ist Geschmacksache. Aber es verdeutlicht noch einmal das Verfahren, wie man Persönlichkeitstypologien zum Entwickeln interessanter und glaubhafter Charaktere einsetzen kann.

Passgenaue Genre

Vielleicht ist es einigen ja eher nicht recht, über die Untergenres der Science Fiction nachzudenken. Man will ja beim Schreiben in Bereiche vorstoßen, die noch nie ein Mensch gesehen hat. Da ist eine Schublade wie ein Genre eher ungelegen. Die legt ja nahe, sich an ein Schema anzupassen, das schon oft zur Anwendung kam.

Blakeheadshot_croppedTrotzdem rät der Drehbuchberater Blake Snyder („Save the cat“), sein Genre genau zu kennen, alle Filme zu analysieren, die in dieses Genre fallen und erfolgreich waren und sich dann an die Spielregeln zu halten. Seine Argumentation ist, dass bestimmte Genrestrukturen „gelernt“ sind. Ein Zuschauer wäre irritiert, wenn es plötzlich anders weitergehen würde als in bisherigen Filmen. Und die Produzenten, die das Drehbuch überhaupt erst einmal in Betracht ziehen müssen, würden ebenfalls nicht auf Anhieb verstehen, worum es geht.

Das ist sicherlich für einen Kreativen ein frustrierender Rat. Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sich damit zu versöhnen. Ich glaube Genres funktionieren nicht deshalb, weil das schon einmal jemand so als Film umgesetzt hat, sondern sie gehen weiter zurück in der menschlichen Kultur. Bestimmte Formen von Geschichten passen besonders leicht in unser Gehirn, weil sie dem Erleben der Menschen seit Tausenden von Jahren entsprechen. Bestimmte Dinge, Zusammenhänge, Abläufe waren überlebenswichtig und so reagieren wir darauf schneller. Und sie wirken existentieller. So wird das scheinbar oberflächliche Genre plötzlich etwas Tiefgründiges. Nicht umsonst sprechen Drehbuchtrainer so oft von Archetypen, Mythen und ähnlichem.

Bei Snyder bedeuten Genres ein wenig etwas anderes als bei Kaffeehaus-Gesprächen von Science-Fiction-Aficionados. Die reden über Space Opera und Inner Space. Dazu kommen wir gleich.

Snyder meint allgemeinere Genres, gibt aber auch einige Science-Fiction-Filme als Beispiel. Seine zehn „generischen“ Filmgenre sind:

  • Monster in the house (Alien)
  • Golden Fleece (Star Wars)
  • Out of the bottle
  • Dude with a problem
  • Rites of passage
  • Buddy Love
  • Whydunit
  • The Fool Triumphant
  • Institutionalized
  • Superhero

Ich werde auf die einzelnen Genretypen in diesem Blog bei Gelegenheit zurückkommen. Wichtig an dieser Stelle erst einmal: Solche Genres sind ziemlich unabhängig von dem Kontext in den sie gestellt werden. Will ich einen Buddy Love Film (Laurel und Hardy, Butch Cassidy and Sundance Kid …) schreiben, kann das ebenso ein Western sein, wie ein Krimi oder eben ein Science-Fiction-Film. Und damit kann ich mir auch Filme dieses generischen Genres anschauen, die aus einer anderen Kategorie kommen und die Struktur ergründen. Eben einen genialen Buddy Love Krimi nehmen und ihn ins All transportieren. Snyders Rat: Überlegen, in welche Kategorie das eigene Drehbuch-Vorhaben fällt. Dann die besten Filme aus diesem Genre ansehen und vergleichen, was sie jeweils besonders auszeichnet. Aber auch was die „ehernen Gesetze“, die Gemeinsamkeiten sind. Und dann: „Give me the same thing … only different!“

Und jetzt zu den Kaffeehausdiskussionen. Im nächsten Blogbeitrag.

Quelle Photo Blake Snyder: http://www.savethecat.com/